Karosseriefertigung Gigacasting: Alles aus einem Guss

Wesentliche Strukturen der Karosserie als ein Teil aus Aluminiumdruckguss: Das verspricht geringere Produktionskosten. Wird damit jeder Unfall zum Totalschaden?

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Volvo Fahrwerksaufnahme

Der Karosserieboden für die Fahrwerksaufnahme - hier für die Hinterachse bei Volvo - wird bei immer mehr Herstellern im Gigacasting gefertigt: Ein einzelnes Aluminiumdruckgussteil ersetzt den Prozess des Schweißens und Klebens vieler Blechteile. Tesla hat dieses Prinzip beim Model Y im Serienauto eingeführt.

(Bild: Volvo)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Christoph M. Schwarzer
Inhaltsverzeichnis

Tesla praktiziert es beim Model Y, Toyota wird es ab 2026 tun, Volvo, Hyundai, Ford und vielleicht der Rest der Autoindustrie sind dabei oder folgen: Das aufwendige Schweißen, Fügen und Kleben von vielen Karosserieteilen, zum Beispiel beim vorderen und hinteren Unterboden, wird durch einen einzigen Aluminiumdruckguss ersetzt. Tesla und Toyota nennen diesen Fertigungsprozess Gigacasting. Volvo spricht lieber von Mega und Hyundai von Hyper. Gemeint ist das Gleiche: Pressen mit mehreren tausend Tonnen Kraft schaffen in einem Arbeitsschritt ein Aluminiumdruckgussteil. Meistens kommen diese Maschinen vom italienischen Zulieferer IDRA. Hier findet eine kleine Revolution statt. Aber hat das Verfahren, das die Produktion beschleunigt und so Elektroautos preisgünstiger machen könnte, nur Vorteile?

Spätestens seitdem Toyota erklärt hat, das Gigacasting ab 2026 für ein Elektroauto einzusetzen, nimmt jeder den Fertigungsprozess ernst. Die Produktionszeit verkürzt sich, und das senkt die Kosten.

(Bild: Toyota)

Ein Auffahrunfall könnte den wirtschaftlichen Totalschaden bedeuten, weil Austausch oder Reparatur eines riesigen Einzelteils zu teuer oder unmöglich sind. Eine klare Antwort darauf gibt es noch nicht. Zwar ist das Tesla Model Y zurzeit das meistverkaufte Auto in Europa; Auffälligkeiten sind bisher nicht zu beobachten. Es kann sein, dass es einfach kein Problem mit der im Gigacasting gefertigten vorderen und hinteren Bodengruppe für die Fahrwerksaufnahme gibt. Es kann aber auch sein, dass schlicht zu wenig Zeit auf den Straßen vergangen ist, um einen Trend bei den Model Y festzustellen. heise/Autos hat in der Versicherungswirtschaft nachgefragt. Schließlich würden die Halter eines Model Y sich zuerst an die Haftpflichtversicherung des Fahrers werden, der einem aus welchen Gründen auch immer ins Heck gekracht ist.

Zulieferer für viele Großpressen mit bis zu 9.000 Tonnen Druck ist IDRA aus Italien. Aus Sicht der Versicherungswirtschaft ist es elementar, dass die Aluminiumdruckgussteile bei einem Crash möglichst gut durch vorgelagerte Bauteile geschützt sind.

(Bild: IDRA)

Der Leiter der Sicherheitsforschung im Allianz Zentrum für Technik (AZT), Carsten Reinkemeyer, äußert sich differenziert. Solange solche Aluminiumdruckgussteile durch andere vorgelagerte Bauteile konstruktiv geschützt wären und es Reparaturlösungen geben würde, wäre daran nichts zu beanstanden: "Wir fordern daher eine definierte Crashzone mit Crashboxen auch im Heckbereich des Fahrzeugs, Reparaturlösungen zum Austausch der hinteren Längsträgerstrukturen sowie genügend Abstand der Gussstrukturen zu seitlichen Crash-Ereignissen im Niedriggeschwindigkeitsbereich", so Reinkemeyer.

Ein gutes Beispiel für eine intelligente Lösung sei der BMW i3, heißt es weiter vom AZT. Dessen Kohlefaser-Karosserie wäre ein vergleichbares Großbauteil, das durch abschraubbare Deformationselemente an Front und Heck im alltäglichen Unfallgeschehen gut geschützt werden konnte. Natürlich gibt es einen Parameter, an dem sich eine im Sinn der Reparaturfähigkeit negativer Verlauf schnell ablesen ließe: Die Vollkasko-Typklassen der Versicherer, in denen sich das Schadensgeschehen der vergangenen drei Jahre abbildet. Hier ist ein Tesla Model Y in Klasse 25 eingeordnet, beim BMW iX1 ist es die 23 und beim VW ID.4 die 20 oder 21.

Zurück zum Vorgang an sich, dem Gigacasting: Toyota hatte im Juni 2023 auch konkrete Zahlen veröffentlicht, was untypisch für den zurückhaltend kommunizierenden Weltmarktführer aus Japan ist. Derzeit, so heißt es bei Toyota, würde ein vorderer Unterboden aus 90 und der hintere aus 85 Teilen bestehen. Mit dem Gigacasting ist es in einem noch nicht präsentierten Elektroauto ab 2026 je ein Teil vorne und hinten. Die Entwicklungskosten würden nur 70 Prozent des Bisherigen betragen, und in Zukunft sei eine Halbierung möglich. Die Investitionen in die Fabrik halbieren sich sofort.

Beim Tesla Model Y kann bisher keine Auffälligkeit beobachtet werden. Es ist allerdings zu früh, um daraus Schlüsse zu ziehen. Wahrscheinlich hat Tesla die Gigacasting-Elemente ausreichend geschützt.

(Bild: Christoph M. Schwarzer)

Wenn ein Konzern wie Toyota, der quasi sinnbildlich für die permanente Verbesserung aller Produktionsprozesse (Kaizen) steht, das Gigacasting einführt, könnte das exemplarisch für die gesamte Autoindustrie stehen. Was die Reparaturfähigkeit betrifft, kommt es offensichtlich darauf an, wie man das Gigacasting einbettet. Für die negative Vorstellung, dass mittelfristig nur noch Wegwerfautos verkauft werden, die bei einem ordentlichen Rempler auf dem Supermarktparkplatz ein wirtschaftlicher Totalschaden sind, gibt es momentan keine Belege.

(mfz)