Kernfusionsreaktor: Plasma-Erzeugung am ITER verzögert sich massiv

Das Kernfusionsprojekt ITER ist noch weit davon entfernt, kohlenstofffrei Energie wie die Sonne zu erzeugen. Der unfertige Reaktor muss schon repariert werden.

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(Bild: ITER)

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Auch wenn US-Forscher jüngst einen Meilenstein bei Grundverfahren für die Kernfusion erreichten, ist der Weg zum Einfangen der Energie des Sonnenfeuers auf der Erde zumindest bei einem internationalen Vorzeigeprojekt zum Bau eines Kernfusionsreaktors noch lang und steinig. Beim Bau des ITER auf dem Gelände des Kernforschungszentrums Cadarache in der südfranzösischen Gemeinde Saint-Paul-lès-Durance kommt es aufgrund von Schäden an zentralen Komponenten erneut zu deutlichen Verzögerungen.

Bereits Mitte November erklärte der Verwaltungsrat des Prestigeprojekts, dass es eine ganze Reihe "technische Herausforderungen" gebe, die rasch angegangen werden müssten. Eine Analyse bereits verbauter Bestandteile habe Hinweise darauf ergeben, dass bereits vor deren Inbetriebnahme "umfangreiche Reparaturen" erforderlich seien.

Pietro Barabaschi, der im September die Position des ITER-Generaldirektors übernahm, räumte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP nun ein: Die Probleme zu beheben, "ist keine Frage von Wochen, sondern von Monaten oder gar Jahren." Dies dürfte auch zu Mehrkosten noch nicht bekannten Ausmaßes führen. Der Bau des Reaktors ist derzeit eigentlich mit 20 Milliarden Euro angesetzt.

Als ein Problem bezeichnete Barabaschi die falschen Maße für die Verbindungen der Blöcke, die für die 19 mal 11 Meter große, die Gestalt eines Rettungsrings aufweisende Vakuumkammer der Anlage zusammengeschweißt werden mussten. Das Gebilde für die Aufnahme des Wasserstoffplasmas soll aus neun Segmenten bestehen, von denen laut der "Neuen Zürcher Zeitung" jedes so schwer ist wie vier voll beladene Boeing 747.

Bei drei dieser Segmente sind dem ITER-Chef zufolge Abweichungen von bis zu zwei Zentimetern entdeckt worden. Ein Teil sei bereits in der Baugrube installiert und müsse nun wieder entfernt werden. Dies verlangte die französische Behörde für nukleare Sicherheit (ASN) bereits Anfang 2022.

Wie bei vielen komplexen technologischen Objekten basiere auch beim ITER die Herstellung auf dreidimensionalen, computergestützten Entwürfen, heißt es erläuternd von den Projektverantwortlichen. "In der idealen Welt des 3D-Designs sind die Abmessungen eines Bauteils per Definition nominal und die Teile passen zusammen wie die Zahnräder einer teuren Armbanduhr. In der realen Welt der Industrie liegen die Dinge jedoch anders: Abweichungen während des Fertigungsprozesses sind unvermeidlich und können zu 'Nichtkonformitäten' führen, die behoben werden müssen."

Die zweite Ungereimtheit sind Korrosionsspuren an einem der Hitzeschilde, die die bei minus 269 Grad Celsius arbeitenden supraleitenden Magnete von der viel heißeren Vakuumkammer abschirmen sollen. Dies könnte dazu führen, dass das im Kühlkreislauf verwendete Helium austritt, führte Barabaschi aus.

Das ITER-Team erläuterte bereits vor Kurzem, dass diese Lecks bei Heliumtests festgestellt worden seien. Als Ursache hätten Experten Spannungen ausgemacht, "die durch das Biegen und Schweißen der Kühlflüssigkeitsrohre an den Paneelen des Hitzeschilds verursacht wurden". Verstärkend habe sich eine langsame chemische Reaktion aufgrund von Chlorrückständen in einigen kleinen Bereichen in der Nähe der Schweißnähte der Rohre ausgewirkt. So sei es zur "Spannungsrisskorrosion" gekommen, durch die im Laufe der Zeit in den Rohren bis zu 2,2 Millimeter tiefe Risse entstanden seien.

Schon im November machte Barabaschi daher die Ansage: "Das Risiko ist zu hoch, und die Folgen eines undichten Hitzeschilds während des Betriebs sind zu gravierend. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um ein umfassendes Problem handelt."

Ursprünglich sollte der Reaktor im Dezember 2025 erstmals mit Plasma gefüllt werden und wie eine kleine Sonne klimaneutral Energie erzeugen. Dieses Datum sei von Anfang an unrealistisch gewesen, meinte der Generaldirektor nun. Er hoffe trotz der erneuten Misslichkeiten, dass ITER in der Lage sein werde, die Verzögerungen aufzuholen. Den Eintritt in die volle Phase der Stromerzeugung, die für 2035 geplant ist, hält er weiter für möglich. Ein überarbeiteter genauer Zeit- und Kostenplan soll unter Berücksichtigung der ASN-Vorgaben aber wohl erst Ende 2023 stehen.

Neben der EU sind an dem Projekt Großbritannien, die Schweiz, USA, China, Südkorea, Japan, Indien und Russland beteiligt. Die Russische Föderation lieferte im November zuletzt eine Magnetfeldspule nach Cadarache, die als wichtige Komponente für ITER gilt. Die Moskauer Atomenergie-Agentur Rosatom beteuerte, man werde den Verpflichtungen für die Gemeinschaftsinitiative trotz des Ukraine-Konflikts vollumfänglich nachkommen.

Mitte Dezember gaben Wissenschaftler des Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien bekannt, sie hätten mit dem größten Laser der Welt zum ersten Mal eine Fusionsreaktion erzeugt, die mehr Energie liefert, als sie zu ihrer Herstellung benötigt. "Ein gewisser Wettbewerb ist in jedem Umfeld gesund", begrüßte Barabaschi diesen separat von ITER erzielten Erfolg. Er wäre froh, wenn jemand einen echten Durchbruch auf dem Gebiet schaffe, der seine Arbeit überflüssig machen würde.

(bme)