Lobbygeflecht bei Chatkontrolle: "Schlimmste Befürchtungen bestätigt"

Neben Ashton Kutcher und seiner Organisation Thorn macht sich ein ganzes Lobby-Netzwerk für die Chatkontrolle in Brüssel stark. Kritiker fordern Konsequenzen.

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Frau tippt an Laptop Kommentare

(Bild: 13_Phunkod/Shutterstock.com)

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Nach einer neuen Recherche zu dem Lobbydickicht hinter dem umkämpften Entwurf der EU-Kommission für eine Verordnung zur Online-Überwachung unter dem Aufhänger des Kampfs gegen sexuellen Kindesmissbrauch werden die Rufe nach einem Stopp der Initiative zur Chatkontrolle lauter. Die Untersuchung "bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen", erklärte Diego Naranjo, Leiter Politik bei der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi). "Das am meisten kritisierte europäische Gesetz zum Thema Technologie im letzten Jahrzehnt ist das Produkt der Lobby privater Unternehmen und der Strafverfolgungsbehörden." Die federführende Innenkommissarin Ylva Johansson habe "die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft" ignoriert und ein Gesetz vorgeschlagen, um "Massenüberwachung zu legalisieren und Verschlüsselung zu brechen".

"Der Kinderschutz wird hier als Türöffner für eine Infrastruktur zur anlasslosen Massenüberwachung missbraucht", beklagt auch Konstantin Macher vom Datenschutzverein Digitalcourage. Zugleich werde schon über eine Ausweitung der eingreifenden Maßnahme zur gängigen Strafverfolgung durch Europol gesprochen. Macher betont: "Damit ist auch die letzte Glaubwürdigkeit zu dem geplanten Überwachungsgesetz verspielt. Die Chatkontrolle muss jetzt sofort gestoppt werden." Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer (Piratenpartei) zeigte sich schockiert: Da er Verhandlungsführer der Grünen-Fraktion sei, hätten sich viele der genannten vermeintlichen Kinderschutzorganisationen oder Opferverbände an ihn gewandt. Mit den beschriebenen Methoden "gekaperter Gesetzgebung" habe er bisher aber nur bei Wirtschaftskonzernen gerechnet.

Er habe keine Ahnung gehabt, dass die Kampagne für die Chatkontrolle von "einem Netzwerk von Organisationen orchestriert und finanziert wird, die mit der Technologieindustrie und den Sicherheitsdiensten verbunden sind", konstatiert Breyer. Diese Beteiligten bezögen "Millionengelder einer US-geführten Stiftung", die auch Beratungsagenturen für die Erstellung von Lobbystrategien bezahle. Um einen Präzedenzfall zu schaffen, wollten US-Akteure in Europa "offenbar eine verdachtslose Durchleuchtung unserer Privatnachrichten" durchdrücken, die in den USA selbst nicht Gesetz sei. Meredith Whittaker, Chefin des Messenger-Dienstes Signal, monierte, dass hinter "dem globalen Angriff auf die digitale Privatsphäre" Strafverfolger und KI-Unternehmen steckten. Letztere gäben sich als Vertreter der Zivilgesellschaft aus, obwohl sie "ein kommerzielles Interesse daran haben, betrügerische Massenscanner-Technologie zu verkaufen".

Bereits bekannt war, dass sich Hollywood-Star Ashton Kutcher wiederholt für das Durchsuchen privater Nachrichten in Brüssel starkmachte und bei Johansson sowie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) auf offene Ohren stieß. Die Brüsseler Regierungsinstitution stützte sich etwa beim Verweis auf die angeblich äußerst niedrige Fehlerquote von Scannern auf unbelegte Angaben der US-Organisation Thorn und ihres kommerziellen Ablegers Safer, die der Schauspieler mitgegründet hat. Laut den neuen, in mehreren europäischen Medien erschienenen Berichten soll Thorn etwa die Lobbyfirma FGS Global für über 600.000 Euro angeheuert haben. Die Autoren enttarnen zudem die WeProtect Global Alliance als regierungsnahe Institution, die eng mit dem Ex-Diplomaten Douglas Griffiths und dessen Oak Foundation verknüpft sei. Letztere habe seit 2019 mehr als 24 Millionen US-Dollar ins Lobbying für die Chatkontrolle etwa auch über das Netzwerk Ecpat, die Organisation Brave und die PR-Agentur Purpose gesteckt.

Johansson hält trotz der Vorwürfe an ihrem Vorhaben fest. "Der Fokus sollte darauf liegen, schnell die effektivsten Lösungen zu finden", erklärte eine Sprecherin der Schwedin gegenüber heise online. "Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Sekunde zu verschwenden: Im vergangenen Jahr wurden weltweit 87 Millionen Bilder und Videos von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet entdeckt, gegenüber 85 Millionen im Jahr zuvor." Anfang August laufe die EU-Übergangsverordnung aus, die es Dienstanbietern erlaube, freiwillig Online-Kindesmissbrauch zu erkennen und zu melden. Von Facebook, Microsoft & Co. stamme derzeit "die überwiegende Mehrheit der Berichte", die bei der Rettung von Kindern hälfen. Die vorgesehenen Aufdeckungsanordnungen seien ein letztes Mittel. Eine generelle Überwachung finde nicht statt. Auf X (ehemals Twitter) schrieb die Kommissarin: "Ich bin stolz, an der Seite von Überlebenden und Organisationen zu stehen, die gegen die Geißel des sexuellen Kindesmissbrauchs im Internet kämpfen."

(olb)