Die X-Akten der Astronomie: Die spukhafte Leoncino-Zwerggalaxie

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Schließlich gibt es noch einen Effekt, der alle Beobachtungen erklären könnte und von den Autoren favorisiert wird: eine Gravitationslinse. Eine Masse, die im Vordergrund der Galaxie vorbeizieht, kann die Form der Galaxie durch Lichtumlenkung um sich herum verzerren und das Licht einer hellen Quelle wie etwa eines kompakten Sternhaufens innerhalb der Leoncino-Galaxie bündeln, verstärken und auch räumlich versetzen (Einsteinring, Einsteinkreuz). Der Effekt kann für relativ nahe gelegene kleine Linsenmassen oder für größere, entfernte Massen in gleicher Größenordnung eintreten, jedoch ist die Dauer des Ereignisses in beiden Fällen sehr verschieden. So könnte eine Linsenmasse von 1000 Sonnenmassen, die in 30 Lichtjahren Entfernung mit 500 km/s die Sichtlinie kreuzt, eine Ablenkung von einer Bogensekunde für die Dauer eines Monats erzeugen. Eine Linsenmasse von einer Million Sonnenmassen in 30.000 Lichtjahren Entfernung würde die gleiche Ablenkung verursachen und bei gleicher Geschwindigkeit 100 Jahre anhalten würde.

Filho und Sánchez Almeida halten eine Linsenmasse von 10.000 bis 500.000 Sonnenmassen für denkbar, die in 300 bis 13.000 Lichtjahren Entfernung und damit im Milchstraßenhalo die Sichtlinie mit 500 km/s gekreuzt haben könnte. Solche Massen könnten von Kugelsternhaufen aufgebracht werden, aber ein solcher wäre nicht zu übersehen und müsste noch in unmittelbarer Nähe der Leoncino-Galaxie am Himmel stehen. Da man nichts dergleichen sieht, könnte ein Klumpen Dunkler Materie in Betracht gezogen werden, eine Art "Dunkle Galaxie", aber da Dunkle Materie keine kompakten Objekte bilden sollte, müsste die Masse eines solchen Objekts wegen ihrer diffusen Ausdehnung noch um einiges größer sein, damit sie im Zentrum ausreichend dicht ist, um den gewünschten Linseneffekt erzeugen zu können.

Das ließe als letzte mögliche Alternative dann nur noch ein Schwarzes Loch mit der entsprechenden Masse zu. Es würde sich demnach um ein Schwarzes Loch im mittleren Massenbereich zwischen stellaren und supermassereichen Schwarzen Löchern handeln. Davon sind noch nicht viele bekannt, aber ein versprengtes Schwarzes Loch ohne Materieeinfall wäre auch bestenfalls anhand seiner Linseneffekte auf Hintergrundobjekte aufspürbar, was nicht eben leicht wäre. Möglicherweise schwirren solche Objekte als Relikte der von der Milchstraße bei ihrem Wachstum verschluckten Zwerggalaxien im Halo umher. Einige Arbeiten sagen dies voraus und einzelne wollen sogar mögliche Kandidaten aufgespürt haben.

Eine Arbeit schätzt zwischen 70 und 2000 solcher Schwarzer Löcher mittlerer Masse im Milchstraßenhalo. So eines dann zufällig im Vordergrund einer Zwerggalaxie von 10 Bogensekunden zu finden, hätte eine Wahrscheinlichkeit in der Größenordnung von 1:10 Millionen. Etwa wie ein Sechser im Lotto. So haben wir am Ende ein plausibles Szenario für alle Effekte, aber leider ist es statistisch so gut wie auszuschließen, und es baut auf einer Reihe unbelegter Annahmen auf.

Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit aber auch gar nicht so klein, denn 10 Bogensekunden entsprechen 100.000 Lichtjahren Durchmesser einer Galaxie in 2,7 Milliarden Lichtjahren Entfernung. Es befinden sich Milliarden Galaxien in diesem Volumen – dass eine davon gerade von einem Schwarzen Loch im Halo der Milchstraße gelinst wird, wäre dann sogar zu erwarten. Allerdings wird danach noch nicht systematisch gesucht. Professor Sánchez Almeida setzt hier seine Hoffnungen auf das Vera C. Rubin Observatorium, das im nächsten Jahr in Betrieb gehen soll und den Himmel großflächig überwachen wird.

Was hinter den Erscheinungen in der Leoncino-Zwerggalaxie steckt, bleibt vorerst ungeklärt. Auszuschließen sind nur physische Veränderungen der kompletten Galaxien. Vielleicht eine Supernova in Kombination mit einer schlechten POSS-I-Aufnahme unter widrigen Bedingungen, vielleicht ist sie eine Spur zu einer neuen Spezies in der Halopopulation der Milchstraße in Form mittelschwerer Schwarzer Löcher. Auf jeden Fall hat sich die Galaxie ihren Eintrag in den Anomalienkatalog des Breakthrough-Listen-Projekts verdient.

Quelle:

(mho)