Zahlen, bitte! Die Compact Cassette – 60 Minuten zur Demokratisierung der Musik

Seite 2: Die Demokratisierung der Musik

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Außerdem konnte man mit Rekordern sich seine eigenen Tapes erstellen und aufnehmen. Somit waren Musiker nicht mehr auf kompliziertes Audioequipment angewiesen und konnten problemlos Demotapes und Mixe erstellen und verteilen. Dass sich leicht Aufnahmen anfertigen ließen brachte wiederum die Musikindustrie auf die Palme, die in den Aufnahmen ihre Existenz bedroht sah. Daher reagierte beispielsweise die British Phonographic Industry auf das Kassettenphänomen mit der viel parodierten Aktion "Home Taping is Killing Music", als Auftakt zum Kampf gegen "Musikpiraterie".

"Hometaping is Killing Music" – die Kampagne der britischen Plattenindustrie wird bis heute immer wieder durch den Kakao gezogen.

Der Kassettenrecorder hielt außerdem in die Kinderzimmer Einzug. "Benjamin Blümchen", "Bibi Blocksberg", "TKKG", "Die drei ???" & Co. sind zum Teil bis heute Dauerbrenner. Hier konnte die Kassette ihre konstruktiven Vorteile ausspielen: kompakt, robust und einfach zu verstehen. Und bei Hörspielen fällt auch der konstruktive Nachteil des linearen Abspielens nicht so stark ins Gewicht.

Wenn es denn mal Probleme gab und sich das Band – die am meisten verbreiteten Formate dafür waren C60 mit 30 Minuten Spielzeit pro Seite, C90 und C120 mit 60 Minuten pro Seite – zum selbigen Salat im Recorder ausrollte, konnte man das Malheur meist mit einem Bleistift beheben. Zu dem Fall hat Twitter-User Grantscheam einen Gesundheitstipp: “Wenn du den Zusammenhang zwischen einem Bleistift und einer Musikkassette verstehst, wird es altersmäßig Zeit für eine Darmspiegelung.“

Hier deutet sich schon an, dass die Technik bereits durch die Digitalisierung obsolet geworden ist: Erst durch CDs, später durch MP3s, iPods, Smartphones und Streaming-Dienste brachen die Verkäufe fast komplett ein. Ein zwischenzeitlicher Rettungsversuch durch die von Philips und Matsushita gemeinsam entwickelte Digital Compact Cassette scheiterte.

Erst seit einigen Jahren nehmen im Zuge der Retrowelle die Verkäufe wieder zu. So vermeldete der Nielsen Music Report 2017 einen Zuwachs der Verkäufe in den USA um rund 35 Prozent auf 174.000 Datenträger, was im Gesamtmusikmarkt allerdings einen verschwindend geringen Anteil darstellt. In Deutschland ist die Compact Cassette nach wie vor seit dem Niedergang nur noch ein Randphänomen, aber gerade Hörspiele werden von den Eltern an die Kinder weitergegeben und sind Second Hand durchaus gefragt, auch wenn neue Folgen in der Regel nicht mehr auf Kassette erscheinen.

Im 8-Bit-Computerbereich (Apple I, Atari 800, C64, Schneider CPC etc.) wurden Kassetten als Datasette verwendet. Sie waren günstige, wenn auch langsame Datenträger. Bis komplexere Spiele geladen waren, konnten einige Minuten vergehen. Die Spätgeborenen dürfen sich das so vorstellen: Es war ungefähr so, als wenn an der PS4 vor dem Start eines Spiels jedes Mal erst noch ein 4-GByte-Patch heruntergeladen und installiert werden müsste. Man übte sich also eher in Geduld oder machte dem Programm via Schnellader wie "Turbo Tape" Beine (was beim C64 die Ladegeschwindigkeit bis 15x über Normal erhöhen konnte).

Die vielen Facetten der Compact Cassette (5 Bilder)

Ein Commodore 1531 - Datasettenlaufwerk für die Serie 264 (C16/116/Plus/4): Der Zähler half beim Spulen, den Programmstartpunkt zu finden.

Mit dem Aufkommen günstiger Diskettenlaufwerke verschwanden die Datasetten aber relativ schnell vom Markt, da die Geschwindigkeit und die lineare Datenabgabe im besonderen Maße negativ ins Gewicht fielen. Was echte Nerds natürlich nicht davon abhält, auch Datasetten-Laufwerke zu emulieren, wie zum Beispiel durch Press Play on Arduino.

Was bleibt ist der Kult: Mit "Press Play on Tape" hat sich eine Rockband nach dem Datasetten-Startbefehl benannt, die Chiptunes in Rockklänge rückportiert wie beispielsweise die Musik aus Giana Sisters. Und wenn wir ehrlich sind, versprüht im Vergleich zu einem selbst erstellten Mixtape eine Spotify-Liste den Charme einer Tabellenkalkulation. Daher hat ein Maker einen MP3-Player und USB-Stick in ein Kassettengehäuse gebaut und nennt dies Usbsette.

Lou Ottens wiederum blieb nach der Erfindung der Kassette nicht untätig. Er entwickelte später die CD mit. Das ist aber eine andere Geschichte … (vza)